1. EuGH: Folgen einer unterlassenen Information der Behörde bei geplanten Massenentlassungen
Der Europäische Gerichtshof hatte sich in einer ganz aktuellen Entscheidung mit dem Kündigungsfrühwarnsystem auseinanderzusetzen.
Im deutschen Ausgangsfall musste ein Unternehmen nach Eintritt der Insolvenz die Dienstverhältnisse zahlreicher Mitarbeiter auflösen. Am 17. 1. 2020 wurde das Verfahren zur Konsultation des Betriebsrats eingeleitet sowie wurden dem Betriebsrat alle erforderlichen Informationen mitgeteilt. Der zuständigen Behörde – der Agentur für Arbeit Osnabrück (Deutschland) – wurde jedoch keine Abschrift dieser schriftlichen Mitteilung zugeleitet. Am 22. 1. 2020 erklärte der Betriebsrat, dass er keine Möglichkeit sehe, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden. Tags darauf wurde der Entwurf der Massenentlassung der Agentur für Arbeit mitgeteilt. Anschließend beraumte sie Beratungstermine für die meisten der von den beabsichtigten Entlassungen betroffenen Arbeitnehmer an.
Fraglich war, ob die Entlassungen im konkreten Fall wirksam waren, obwohl die Agentur für Arbeit nicht informiert worden war,
Der EuGH entschied wie folgt:
Die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Behörden in einem frühen Stadium beabsichtigter Massenentlassungen Informationen darüber mitzuteilen (ua über die Gründe der geplanten Dienstvertragsauflösungen, die Zahl und die Kategorien der betroffenen Arbeitnehmer sowie den Zeitraum, in dem die Auflösungen vorgenommen werden sollen; in Österreich „Kündigungsfrühwarnsystem und Verständigungspflicht des Arbeitsmarktservice), hat nicht den Zweck, den betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Diese Mitteilung erfolgt nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken und ermöglicht es der zuständigen Behörde lediglich, sich einen Überblick über die Gründe sowie die Folgen der geplanten Auflösungen zu verschaffen. Die Massenentlassungen waren daher gültig und rechtswirksam (EuGH 13. 7. 2023, C-134/22 )
2. Kündigung bei Erreichen des Regelpensionsalters möglich?
Nach der Rechtsprechung ist bei Erreichen des Regelpensionsalters und Anspruch auf Regelpension der Kündigungsschutz zwar nicht generell und jedenfalls auszuschließen, doch ist wegen der vom Gesetzgeber tolerierten Einkommenseinbußen, die mit jeder Pensionierung verbunden sind, und der Vorhersehbarkeit der Kündigung bei Erreichen des Regelpensionsalters bei Prüfung der Interessenbeeinträchtigung ein strenger Maßstab anzulegen. Im Hinblick auf Pensionierungen nimmt der Gesetzgeber einen gewissen Einkommensverlust bewusst in Kauf.
Deshalb ist eine Kündigung infolge des Umstands, dass der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Alterspension hat, in der Regel nicht sozialwidrig. Wesentlich ist immer, ob der Arbeitnehmer seine Lebenshaltungskosten auch nach Wegfall des Aktivbezugs aus der künftigen Pension oder sonstigen berücksichtigungswürdigen Quellen decken kann.
Im vorliegenden Fall konnte der Kläger allein aus der Pension seine Lebenshaltungskosten nicht decken kann, sondern nur durch weitere ihm zur Verfügung stehende Einkommensmöglichkeiten, nämlich durch Konzerte sowie Unterrichtstätigkeit in Form von Einzelunterricht, Sommerakademien, Meisterkursen und sonstigen Sommerkursen. Zwar hat der OGH bei Berufen, die häufig auch selbstständig ausgeübt werden, in die Beurteilung der Interessenbeeinträchtigung auch Möglichkeiten der selbstständigen Berufsausübung miteinbezogen, doch trifft dies auf die Tätigkeit eines Universitätsprofessors nicht zu. Allerdings werden gerade im künstlerischen Bereich Professoren häufig aufgrund ihrer bisherigen – oft selbstständigen – künstlerischen Tätigkeit berufen, und üben diese, wie auch der Kläger, neben ihrer Lehrtätigkeit auch weiter aus.
Zur Frage, auf welche berufliche Tätigkeit im Rahmen der Prüfung der Interessenbeeinträchtigung durch eine Kündigung abgestellt werden kann, kommt es aber nicht ausschließlich auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit an, sondern welche Tätigkeit dem konkreten Arbeitnehmer zumutbar ist. Der Zumutbarkeitsbeurteilung ist das Berufsleben des Arbeitnehmers zugrunde zu legen und eine objektive Betrachtungsweise aus Sicht des allgemeinen Arbeitsmarkts anzustellen. Es besteht dabei kein strikter Berufs- oder Tätigkeitsschutz und kann wie dargelegt in Einzelfällen auch eine mögliche selbstständige Tätigkeit Berücksichtigung finden.
Der Kläger war von 1980 bis 2014 als freischaffender Künstler tätig. Diese Tätigkeit hat er, wenn auch in eingeschränktem Rahmen, auch nach 2014, als er an die beklagte Universität berufen wurde, weiter ausgeübt. Auch in Zukunft ist ihm möglich, aus dieser Tätigkeit Einkommen zu erzielen. Zusätzlich steht fest, dass der Kläger auf seinem Fachgebiet auch weiter (wenn auch im privaten Bereich) Einkommen aus Unterrichtstätigkeit erzielen kann.
Der Kläger wird daher ausgehend von seiner Pension (inklusive Ausgleichszulage umgerechnet auf 12 Monate), den erzielbaren Einnahmen aus seiner Konzerttätigkeit (auch unter Abzug von Steuern und Auslagen) und aus Unterrichtstätigkeit in der Lage sein, seine Lebenserhaltungskosten zu decken, weswegen die Kündigung nicht sozialwidrig war (OGH 27. 4. 2023, 9 ObA 23/23g).
3. Anfechtung einer Änderungskündigung wegen eines verpönten Motivs
Eine Kündigung kann angefochten werden, wenn sie wegen der offenbar nicht unberechtigten Geltendmachung vom Arbeitgeber in Frage gestellter Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis durch den Arbeitnehmer erfolgt ist. Strebt der Arbeitgeber eine Vertragsänderung über dispositive Vertragspunkte durch ein Änderungsangebot an und stimmt der Arbeitnehmer nicht zu, so kann die aus diesem Grund ausgesprochene (Änderungs)Kündigung zwar als sozialwidrig, nicht aber als Motivkündigung angefochten werden. Im Versuch des Arbeitgebers, eine (gesetzlich nicht unzulässige) Verschlechterung der Bedingungen des Arbeitsvertrags durch eine einvernehmliche Änderung zu erreichen, liegt kein „Infragestellen“ der bisher bestehenden Ansprüche des Arbeitnehmers.
Im konkreten Fall wollte die Arbeitgeberin mit der Klägerin durch Nachtrag zum Dienstvertrag eine neue Stellenbeschreibung und Funktionsbezeichnung vereinbaren, dies wegen betrieblicher Umstrukturierungen. Weder Gehalt, Tätigkeit noch kollektivvertragliche Einstufung der Klägerin wären geändert worden. Es lag daher kein verpönts Motiv für die Kündigung vor (OGH 29. 3. 2023, 8 ObA 11/23k).
4. Krankschreibung am Tag der einvernehmlichen Auflösung – keine Entgeltfortzahlung
Ein Arbeitnehmer stimmte am Vormittag einer einvernehmlichen Auflösung seines Arbeitsverhältnisses zu. In der Folge wurde er aufgrund von Beschwerden, die aus diesem belastenden Vorfall resultierten, am Nachmittag krankgeschrieben. Fraglich war, ob diese Krankschreibung für den ganzen Tag wirkte und die einvernehmliche Auflösung daher „während der Arbeitsverhinderung“ vereinbart wurde (was zu einer Entgeltfortzahlung für die Dauer des Krankenstandes geführt hätte).
Der Oberste Gerichtshof entschied so:
Wird ein Arbeitnehmer während einer Arbeitsverhinderung ohne wichtigen Grund vorzeitig entlassen oder trifft den Arbeitgeber ein Verschulden an dem vorzeitigen Austritt des Arbeitnehmers, bleibt der Anspruch des Arbeitnehmers auf Fortzahlung des Entgelts für die nach dem Gesetz vorgesehene Dauer bestehen, wenngleich das Arbeitsverhältnis früher endet. Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung bleibt auch dann bestehen, wenn das Arbeitsverhältnis während einer Arbeitsverhinderung oder im Hinblick auf eine Arbeitsverhinderung einvernehmlich beendet wird.
Bei der einvernehmlichen Beendigung während des Krankenstands ist das Motiv der Beendigung ohne Bedeutung. Dagegen muss bei der einvernehmlichen Beendigung im Hinblick auf einen Krankenstand das Motiv zur Beendigung im (bevorstehenden) Krankenstand liegen, was die diesbezügliche Kenntnis des Arbeitgebers voraussetzt.
Soweit die Bestimmung auf die Auflösung „während der Arbeitsverhinderung“ abstellt, bleibt der Entgeltfortzahlungsanspruch nur dann über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus bestehen, wenn die Dienstverhinderung bereits im Zeitpunkt (des Zugangs) der Beendigungserklärung vorlag, das tatsächliche Ende des Arbeitsverhältnisses ist nicht relevant. Für die einvernehmliche Auflösung (erster Fall) bedeutet das, dass die Vereinbarung während der Arbeitsunfähigkeit abgeschlossen worden sein muss, für die die Entgeltfortzahlung begehrt wird.
Dass keine Kenntnis des Arbeitgebers von der Arbeitsverhinderung erforderlich ist, ist insbesondere in jenen Fällen relevant, in denen der Arbeitnehmer nach Ausspruch der Beendigungserklärung bzw Vereinbarung der einvernehmlichen Auflösung noch für den Tag der Erklärung oder der Auflösung krankgeschrieben wird – was teilweise auch rückwirkend erfolgt – und das ärztliche Attest dem Arbeitgeber erst danach vorgelegt wird.
Es kommt auf das objektive Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit an.
In der Regel wird der Zeitpunkt, in dem die Krankschreibung erfolgt, nicht mit dem Zeitpunkt der objektiven Dienstverhinderung gleichzusetzen ist, wird durch die Krankschreibung diese Dienstverhinderung ja nur dokumentiert. Erfolgt daher eine Krankschreibung rückwirkend, kann regelmäßig davon ausgegangen werden, dass die Arbeitsverhinderung schon zu diesem Zeitpunkt vorgelegen ist. Da es in die fachliche Kompetenz des Arztes fällt, zu entscheiden, ob Arbeitsunfähigkeit besteht, wird es teilweise in der Lehre sogar als unerheblich erachtet, wenn der Arbeitnehmer einen Arbeitsversuch unternommen hat, weil er sich für ausreichend arbeitsfähig hielt. Dessen ungeachtet muss aber dem Arbeitgeber die Möglichkeit offenstehen zu beweisen, dass unabhängig von der Krankschreibung objektiv keine Arbeitsunfähigkeit vorlag.
Im vorliegenden Fall war nicht davon auszugehen, dass der Kläger zu Beginn des Tages des 27. 9. 2021 arbeitsunfähig oder krank war. Auch der Kläger selbst ging davon aus, dass er am Morgen dieses Tages noch arbeitsfähig war und seine Beschwerden aus dem Vorfall am Vormittag resultierten. Damit war aber die einvernehmliche Auflösung nicht „während der Arbeitsverhinderung“ vereinbart worden, unabhängig davon, dass die Krankschreibung ohne näheres Anführen eines Zeitpunkts für diesen Tag erfolgte.
Es besteht daher kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung über das Ende des Dienstverhältnisses hinaus (OGH 24. 5. 2023, 8 ObA 4/23f).